Von den zahlreichen Betriebsunfällen
und Beinahe-Katastrophen im Zusammenhang mit nuklearen Waffen sind
nur wenige einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangt. Der
amerikanische Journalist und Historiker Eric Schlosser hat mit
Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion
der Sicherheit ein umfassende Studie über die potentiellen Gefahren
und deren technische wie strukturelle Ursachen vorgelegt. Der Vorzug
von Schlossers Geschichte der amerikanischen Atomrüstung liegt im
Bemühen, die faktische Unsicherheit von Atomwaffen nicht nur auf
technologischer Ebene zu beleuchten, sondern als logische Folge der
strategischen und militärisch-politischen Rahmenbedingungen zu
interpretieren. Dabei geht es im Kern um den Widerspruch zwischen
einer effizienten Kontrolle über eine Waffe von schier unfassbarer
Vernichtungsgewalt einerseits und andererseits der Etablierung von
Kommandostrukturen, die unter extremem Zeitdruck von der Frühwarnung
bis zum Einsatzbefehl nahezu unfehlbar funktionieren sollten.
In Schlossers kursorischer
Rekonstruktion der Geschichte amerikanischer Nuklearrüstung
erscheint die Angst vor dem atomaren Erstschlag, der zugleich als
strategischer Enthauptungsschlag ausgeführt wird und damit die
Möglichkeit einer Vergeltung unterbindet, als zentrales politisches
Moment aller Phasen der atomaren Aufrüstung von den 50er bis zu den
80er Jahren. Heute weiß man, dass diese Ängste zu einem großen
Teil politischer und rüstungswirtschaftlicher Lobbyarbeit zu
verdanken waren: Weder gab es bis 1961 eine 'Raketenlücke', noch
hatte das um 1978 propagierte 'Zeitfenster der Verwundbarkeit' echte
strategische Evidenz. Andererseits existierten Überlegungen zu einem
atomaren Erstschlag durchaus auch auf Seiten der USA, und zwar nicht
nur als militärische Planspiele, sondern als Diskussionsvorlage,
z.B. unter Kennedy, bis hinauf zur präsidialen Ebene.
Im Zentrum der amerikanischen
Nuklearkriegs-Planung stand ab 1961 der Single Integrated Operational
Plan (SIOP), ein gemeinsamer Operationsplan für alle nuklearen
Teilstreitkräfte, dessen Kern ein umfassendes Zielverzeichnis
bildete. Einmal in Gang gesetzt, glich der SIOP einer infernalischen
und zugleich starr-mechanistisch ablaufenden Vernichtungswalze, die
der Zivilisation in den Staaten des Ostblockes ein nukleares Ende
gesetzt hätte. Schlosser dokumentiert eindrucksvoll, wie über
Jahrzehnte sowohl Militärangehörige als auch politisch
Verantwortliche neuer Administrationen beim Einblick in den geheimen
SIOP fassungslos waren angesichts der vollkommen überzogenen
Massenvernichtung, die die verantwortlichen Planungsstäbe
ausgebrütet hatten. Strategisch wichtige Ziele sollten vielfach von
Nuklearwaffen getroffen werden, insgesamt sollten tausende von Atom-
und Wasserstoffbomben auf die Sowjetunion niedergehen. Auch heute im
Rückblick noch als wichtig eingeschätzte strategische Konzepte wie
Robert McNamaras 'Flexible Response', deren Ansatz die Begrenzung und
Verhältnismäßigkeit nuklearer Vergeltung waren, fanden im SIOP
kaum Niederschlag, so Schlosser. Selbst angesichts der Ende der 60er
Jahre propagierten Strategie der 'gesicherten gegenseitigen
Vernichtung' (Mutually assured destruktion, MAD) waren die im SIOP
angelegten Angriffspläne quantitativer Irrsinn.
„Mehr als vierzig Jahre waren alle
Bemühungen gescheitert, den SIOP zu bändigen, zu begrenzen, zu
reduzieren und logisch vernünftig zu gestalten. „Abgesehen
vielleicht vom sowjetischen Nuklearkriegsplan war dies das absurdeste
und verantwortungsloseste Dokument, das ich in meinem ganzen Leben
jemals zu Gesicht bekommen habe“, sagte General Butler [der
Oberbefehlshaber des Strategic Air Command ab 1991, M.M.] im
Rückblick.“ (S. 516)
Das Overkill-Potential der nuklearen
Rüstung der Supermächte war damit keine rein rechnerische Größe,
sondern integraler Bestandteil der strategischen Einsatzplanung.
Das
immerwährende Spannungsverhältnis zwischen militärischem
Souveränitätsanspruch und politischer Kontrolle einerseits
sowie die Konkurrenz der Waffengattungen um die effizientesten
Vernichtungsmittel andererseits werden als zentrale
Faktoren der Verselbstständigung militärischer Kalküle
und deren Abkoppelung vom politschen Diskurs herausgestellt. Waren die
ersten, in Blechhütten in Handarbeit zusammengeschraubten Atombomben
und deren Nachfolger noch
der Atomenergie-Kommission unterstellt, so bemühte
sich das Militär bis zum Ende der 50er Jahre um die alleinige
Verfügungsgewalt über die Nuklearwaffen. Mit Eisenhowers
Zugeständnis einer Einsatzerlaubnis ohne präsidiale Anordnung für
den Fall, dass die Regierung im Krisenfall nicht mehr erreichbar
wäre, war dieses Ziel bereits
1959 erreicht. Der
Aufbau des Strategic Air Command (SAC) unter Curtis LeMay in den 50er
Jahren sowie die Verlagerung auf land-
und seegestützte ballistische
Interkontinentalraketen (ICBM)
ab den 60er Jahren bilden
weitere zentrale
Momente in der Geschichte der amerikansichen
Atomrüstung. Vor
allem im Zeitalter der ICBMs, die, einmal durch den Go-Code
gestartet, nicht mehr rückholbar sind, werden die Widersprüche im
Hinblick auf eine technische und administrative Kontrolle besonders
deutlich. Denn die notwendige Kehrseite der zentralisierten, im
Minuten-Zeitfenster aktivierbaren Einsatzbereitschaft bildet ein
Kontrolldilemma, das angesichts des potentiellen Schadens mit einem
kaum vertretbaren Restrisiko behaftet bleibt. Bei allen Bemühungen,
den Frühwarnsystemen mit der jeweils aktuellsten Technik ein
Höchstmaß an Zuverlässigkeit abzuringen, wurden von den Computern
zahllose Male Angriffe mit höchster Evidenz vorgegaukelt. Die
Bereitschaft, auch die Entscheidungsabläufe den Maschinen zu
überlassen, führte mehr als einmal an den Rand des nuklearen
Abgrunds, wie Schlosser zeigen kann.
Einen
weiteren Schwerpunkt des Buches bildet die technische Sicherheit der
amerikanischen Nuklearwaffen. Da das Militär die Bedeutung von
Einsatzbereitschaft und Zuverlässigkeit der Waffensysteme über
Jahrzehnte stets
höher bewertet
hat als das Bemühen um Schutzfunktionen gegen Missbrauch und
Fehl-Detonationen,
waren die Sicherungssysteme
beispielsweise bei luftgestützten Wasserstoffbomben bis Ende der
60er Jahre marginal, so Schlosser. Zum Zünden der Bomben kamen
einfache, unkodierte Strom-Schaltkreise zum Einsatz. Schon
vertauschte Stecker und vergessene Schraubenzieher führten zur
Beinahe-Katastrophe. Man muss
sich die Bedingungen des Kalten Krieges noch einmal vor Augen führen,
um die Risiken zu verstehen, die über Jahrzehnte eingegangen worden
sind: Angesichts der
24-Stunden-Luftbereitschaftsflüge, bei denen sich stets mehrere
B-52-Bomber mit einsatzbereiten thermonuklearen Waffen über
der Nordhalbkugel in der Luft
befanden, grenzt es an ein Wunder, dass niemals ein Waffensystem
detoniert ist. Abstürze und Bomben-Notabwürfe, bei denen ein
solches Szenario denkbar gewesen wäre, kamen nämlich zur Genüge
vor. In Punkto Sicherheit setzte das Strategic Air Command vor allem
auf die Loyalität der Mannschaften. So kann Schlosser zeigen, dass
zeitweise zwei SAC-Offiziere genügt hätten, um eine ganze Staffel
Minuteman-Raketen
Richtung Sowjetunion auf den Weg zu bringen.
Command
and control ist in einem journalistisch lockeren Ton verfasst und
setzt bei der minutiösen Darstellung von Unfall-Szenarien teilweise
auf thrillerartige Spannungsbögen. Der dezidiert unwissenschaftliche
Prosa-Stil beruht zwar auf penibel umfassender Recherche und
belastbaren Fakten – 30 Seiten Literaturverzeichnis geben genügend
Anregung zur weiterführenden Lektüre. Thematische Zuspitzung und
Erkenntnisinteresse drohen allerdings bisweilen im stark
anekdotenhaften Erzählfluss
verloren zu gehen. Dies gilt
vor allem für die Darstellung weiträumiger und komplexer
politischer Zusammenhänge, bei deren Darstellung weitgehend
einschlägige Akteure aus Politik und Militärapparat in den Fokus
gestellt werden. Der historische Kontext amerikanischer
Regierungspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg gerät dadurch etwas
holzschnittartig, was im Hinblick auf die thematische Zielstellung
einer Aufarbeitung der Kommando- und Kontrollstrukturen für die
Atomrüstung jedoch zu verschmerzen ist.
Eric Schlosser: Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit.
München 2013.
C.H. Beck Verlag, 597 Seiten.