27. Juni 2014

Eric Schlosser: Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit.

Von den zahlreichen Betriebsunfällen und Beinahe-Katastrophen im Zusammenhang mit nuklearen Waffen sind nur wenige einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangt. Der amerikanische Journalist und Historiker Eric Schlosser hat mit Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit ein umfassende Studie über die potentiellen Gefahren und deren technische wie strukturelle Ursachen vorgelegt. Der Vorzug von Schlossers Geschichte der amerikanischen Atomrüstung liegt im Bemühen, die faktische Unsicherheit von Atomwaffen nicht nur auf technologischer Ebene zu beleuchten, sondern als logische Folge der strategischen und militärisch-politischen Rahmenbedingungen zu interpretieren. Dabei geht es im Kern um den Widerspruch zwischen einer effizienten Kontrolle über eine Waffe von schier unfassbarer Vernichtungsgewalt einerseits und andererseits der Etablierung von Kommandostrukturen, die unter extremem Zeitdruck von der Frühwarnung bis zum Einsatzbefehl nahezu unfehlbar funktionieren sollten.

In Schlossers kursorischer Rekonstruktion der Geschichte amerikanischer Nuklearrüstung erscheint die Angst vor dem atomaren Erstschlag, der zugleich als strategischer Enthauptungsschlag ausgeführt wird und damit die Möglichkeit einer Vergeltung unterbindet, als zentrales politisches Moment aller Phasen der atomaren Aufrüstung von den 50er bis zu den 80er Jahren. Heute weiß man, dass diese Ängste zu einem großen Teil politischer und rüstungswirtschaftlicher Lobbyarbeit zu verdanken waren: Weder gab es bis 1961 eine 'Raketenlücke', noch hatte das um 1978 propagierte 'Zeitfenster der Verwundbarkeit' echte strategische Evidenz. Andererseits existierten Überlegungen zu einem atomaren Erstschlag durchaus auch auf Seiten der USA, und zwar nicht nur als militärische Planspiele, sondern als Diskussionsvorlage, z.B. unter Kennedy, bis hinauf zur präsidialen Ebene.

Im Zentrum der amerikanischen Nuklearkriegs-Planung stand ab 1961 der Single Integrated Operational Plan (SIOP), ein gemeinsamer Operationsplan für alle nuklearen Teilstreitkräfte, dessen Kern ein umfassendes Zielverzeichnis bildete. Einmal in Gang gesetzt, glich der SIOP einer infernalischen und zugleich starr-mechanistisch ablaufenden Vernichtungswalze, die der Zivilisation in den Staaten des Ostblockes ein nukleares Ende gesetzt hätte. Schlosser dokumentiert eindrucksvoll, wie über Jahrzehnte sowohl Militärangehörige als auch politisch Verantwortliche neuer Administrationen beim Einblick in den geheimen SIOP fassungslos waren angesichts der vollkommen überzogenen Massenvernichtung, die die verantwortlichen Planungsstäbe ausgebrütet hatten. Strategisch wichtige Ziele sollten vielfach von Nuklearwaffen getroffen werden, insgesamt sollten tausende von Atom- und Wasserstoffbomben auf die Sowjetunion niedergehen. Auch heute im Rückblick noch als wichtig eingeschätzte strategische Konzepte wie Robert McNamaras 'Flexible Response', deren Ansatz die Begrenzung und Verhältnismäßigkeit nuklearer Vergeltung waren, fanden im SIOP kaum Niederschlag, so Schlosser. Selbst angesichts der Ende der 60er Jahre propagierten Strategie der 'gesicherten gegenseitigen Vernichtung' (Mutually assured destruktion, MAD) waren die im SIOP angelegten Angriffspläne quantitativer Irrsinn.

„Mehr als vierzig Jahre waren alle Bemühungen gescheitert, den SIOP zu bändigen, zu begrenzen, zu reduzieren und logisch vernünftig zu gestalten. „Abgesehen vielleicht vom sowjetischen Nuklearkriegsplan war dies das absurdeste und verantwortungsloseste Dokument, das ich in meinem ganzen Leben jemals zu Gesicht bekommen habe“, sagte General Butler [der Oberbefehlshaber des Strategic Air Command ab 1991, M.M.] im Rückblick.“ (S. 516)

Das Overkill-Potential der nuklearen Rüstung der Supermächte war damit keine rein rechnerische Größe, sondern integraler Bestandteil der strategischen Einsatzplanung.

Das immerwährende Spannungsverhältnis zwischen militärischem Souveränitätsanspruch und politischer Kontrolle einerseits sowie die Konkurrenz der Waffengattungen um die effizientesten Vernichtungsmittel andererseits werden als zentrale Faktoren der Verselbstständigung militärischer Kalküle und deren Abkoppelung vom politschen Diskurs herausgestellt. Waren die ersten, in Blechhütten in Handarbeit zusammengeschraubten Atombomben und deren Nachfolger noch der Atomenergie-Kommission unterstellt, so bemühte sich das Militär bis zum Ende der 50er Jahre um die alleinige Verfügungsgewalt über die Nuklearwaffen. Mit Eisenhowers Zugeständnis einer Einsatzerlaubnis ohne präsidiale Anordnung für den Fall, dass die Regierung im Krisenfall nicht mehr erreichbar wäre, war dieses Ziel bereits 1959 erreicht. Der Aufbau des Strategic Air Command (SAC) unter Curtis LeMay in den 50er Jahren sowie die Verlagerung auf land- und seegestützte ballistische Interkontinentalraketen (ICBM) ab den 60er Jahren bilden weitere zentrale Momente in der Geschichte der amerikansichen Atomrüstung. Vor allem im Zeitalter der ICBMs, die, einmal durch den Go-Code gestartet, nicht mehr rückholbar sind, werden die Widersprüche im Hinblick auf eine technische und administrative Kontrolle besonders deutlich. Denn die notwendige Kehrseite der zentralisierten, im Minuten-Zeitfenster aktivierbaren Einsatzbereitschaft bildet ein Kontrolldilemma, das angesichts des potentiellen Schadens mit einem kaum vertretbaren Restrisiko behaftet bleibt. Bei allen Bemühungen, den Frühwarnsystemen mit der jeweils aktuellsten Technik ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit abzuringen, wurden von den Computern zahllose Male Angriffe mit höchster Evidenz vorgegaukelt. Die Bereitschaft, auch die Entscheidungsabläufe den Maschinen zu überlassen, führte mehr als einmal an den Rand des nuklearen Abgrunds, wie Schlosser zeigen kann.

Einen weiteren Schwerpunkt des Buches bildet die technische Sicherheit der amerikanischen Nuklearwaffen. Da das Militär die Bedeutung von Einsatzbereitschaft und Zuverlässigkeit der Waffensysteme über Jahrzehnte stets höher bewertet hat als das Bemühen um Schutzfunktionen gegen Missbrauch und Fehl-Detonationen, waren die Sicherungssysteme beispielsweise bei luftgestützten Wasserstoffbomben bis Ende der 60er Jahre marginal, so Schlosser. Zum Zünden der Bomben kamen einfache, unkodierte Strom-Schaltkreise zum Einsatz. Schon vertauschte Stecker und vergessene Schraubenzieher führten zur Beinahe-Katastrophe. Man muss sich die Bedingungen des Kalten Krieges noch einmal vor Augen führen, um die Risiken zu verstehen, die über Jahrzehnte eingegangen worden sind: Angesichts der 24-Stunden-Luftbereitschaftsflüge, bei denen sich stets mehrere B-52-Bomber mit einsatzbereiten thermonuklearen Waffen über der Nordhalbkugel in der Luft befanden, grenzt es an ein Wunder, dass niemals ein Waffensystem detoniert ist. Abstürze und Bomben-Notabwürfe, bei denen ein solches Szenario denkbar gewesen wäre, kamen nämlich zur Genüge vor. In Punkto Sicherheit setzte das Strategic Air Command vor allem auf die Loyalität der Mannschaften. So kann Schlosser zeigen, dass zeitweise zwei SAC-Offiziere genügt hätten, um eine ganze Staffel Minuteman-Raketen Richtung Sowjetunion auf den Weg zu bringen.

Command and control ist in einem journalistisch lockeren Ton verfasst und setzt bei der minutiösen Darstellung von Unfall-Szenarien teilweise auf thrillerartige Spannungsbögen. Der dezidiert unwissenschaftliche Prosa-Stil beruht zwar auf penibel umfassender Recherche und belastbaren Fakten – 30 Seiten Literaturverzeichnis geben genügend Anregung zur weiterführenden Lektüre. Thematische Zuspitzung und Erkenntnisinteresse drohen allerdings bisweilen im stark anekdotenhaften Erzählfluss verloren zu gehen. Dies gilt vor allem für die Darstellung weiträumiger und komplexer politischer Zusammenhänge, bei deren Darstellung weitgehend einschlägige Akteure aus Politik und Militärapparat in den Fokus gestellt werden. Der historische Kontext amerikanischer Regierungspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg gerät dadurch etwas holzschnittartig, was im Hinblick auf die thematische Zielstellung einer Aufarbeitung der Kommando- und Kontrollstrukturen für die Atomrüstung jedoch zu verschmerzen ist.

Eric Schlosser: Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit.
München 2013.
C.H. Beck Verlag, 597 Seiten.



29. November 2007

Islam in Europa.

Eine internationale Debatte. Hg.v. Thierry Chervel und Anja Seeliger.
Frankfurt a.M. 2007 (=edition suhrkamp 2531).


Ayaan Hirsi Ali: Das Recht, zu beleidigen.

[...]

Timothy Garton Ash: Der Islam in Europa.

Ash konstatiert eine Generationen übergreifende Entfremdung unter den europäischen Muslimen, worin er eine der grössten aktuellen Gefahren für das gesellschaftliche Gefüge der liberalen Demokratien in Europa sieht. Diese Entfremdung - mit der Folge einer Anfälligkeit für Extremismus - nähre sich aus den Ressentiments der (post)-christlichen weißen Mehrheitseuropäer und trage zugleich zu ihnen bei. An Brisanz gewinnen diese desintegrativen Tendenzen durch die aufgrund weiterer Immigration, hoher Geburtenraten und absehbarer EU-Erweiterungen steigende Zahl von muslimischen EU-Bürgern.

Im Anschluss an Überlegungen Ian Burumas zum Mord Mohammed Bouyeris an Theo van Gogh in seinem Buch Das Ende der Toleranz wirbt Ash für den Versuch einer Auseinandersetzung mit der Täterperspektive: Auch Nachkommen aus Migrantenfamilien lebten oftmals in einer orientierungslosen Situation kultureller Gespaltenheit und pathologischer Entwurzelung, die in der Zerrissenheit und der daraus resultierenden Radikalisierung Bouyeris paradigmatisch zum Ausdruck gekommen sei - auch hinsichtlich eines typischen Umschlages von einer Annäherung an die säkulare europäische Kultur in radikale Ablehnung, als Gang in die islamistische Gewaltspirale.

Ash bezeugt seinen Respekt vor dem Mut und der Geradlinigkeit Ayaan Hirsi Alis, kritisiert aber ihre schlichte Rückführung der Unterdrückung von Frauen (von der generellen sozialen Abhängigkeit bis hin zu den verstümmelnden Gewaltexzessen) auf die religiösen Grundprinzipien eines jenseits regionaler und stammeskultureller Ausprägungen als weitgehen homogen gedachten Islams. Ash sieht darin einen 'Fundamentalismus der Aufklärung', der zwar auf der säkular-humanistischen Linie einer europäischen radikalen Religionskritik liegt, der aber zugleich durch die antireligiöse Grundausrichtung keinerlei Perspektive bietet, an die Muslime anknüpfen könnten.

In der Realität eines komplexen Beziehungsgeflechtes zwischen Europa und dem Islam müssen wir "uns darüber klar werden, was wir für unseren europäischen Lebensstil als wesentlich betrachten und was als verhandelbar" (S.49), so Ash, dem die Redefreiheit fundamental erscheint, die Kopftuchfrage in Frankreich hingegen nicht. Kritisiert werden gleichermaßen Formen der "Besänftigungspolitik" (S.50) im Namen eines Multikulturalismus, der die essentiellen liberalen Existenzgrundlagen vergessen hat, als auch die Identifikation mit globalpolitischen Opferrollen auf Seiten der Muslime.


Pascal Bruckner: Fundamentalismus der Aufklärung oder Rassismus der Antirassisten?

Entgegen den Perspektiven von Buruma und Ash fordert Bruckner eine differenziertere Sicht auf die Thesen von Hirsi-Ali und anderen weiblichen Islam-Kritikerinnen: Indem diese die fehlende Modernisierung des Islam und die teilweise inhumanen Strukturen der Religion im Namen liberaler Werte anprangerten, machten sie lediglich von urdemokratischen Rechten Gebrauch. Sie angesichts dessen mit einem Fundamentalismus-Vorwurf zu konfrontieren, d.h. ausgerechnet die Reformkräfte des Islam zu attakieren, sei nicht nur anmaßend, sondern auch Ausdruck eines falsch verstandenen Multikulturalismus, dem das Erbe der Aufklärung, der Glaube an die Universalität der Menschenrechte, zu entgleiten droht.

Ursächlich für die Selbstvergessenheit westlicher Intellektueller sei nicht nur die selbstkritische Tendenz der (Post)-Moderne (die radikale Selbstaufklärung und Delegitimation der klassischen Aufklärung), sondern vor allem auch ein Freiheitsbegriff, der im Fahrwasser antiimperialistischer Ethnologie das Ideal des Multikulturalismus aufgerichtet hat: Ursprünglich im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens der Ethnien auf einem Territorium entstanden, gründet sich dieser Multikulturalismus auf den Glauben an die "Einzigartigkeit und Legitimität" (S.61) jeder Gruppe, was wiederum mit einem Relativismus der Werte einherginge. An die Stelle des Ideals der Universalität freiheitlicher und humaner Menschenrechte sei unter dem Vorwurf eines "naiven Ethnozentrismus" (S. 61) faktisch die Unantastbarkeit der Differenz getreten.

Effekt sei die Entstehung hermetischer Gemeinschaften mit starkem Interesse an Abgrenzung gegen die soziale Umwelt und an Bewahrung der eigenen traditionellen Wertsysteme gerade auch im Hinblick auf die eigenen Mitglieder. Hier nun wird für Bruckner das "Paradoxon des Multikulturalismus" (S.62) sichtbar, wenn die Rechte der Gemeinschaft zwar klaglos anerkannt und verteidigt, zugleich aber emanzipatorische Anliegen der Individuen, die Loslösung aus den Zwängen der ethnischen Tradition, nicht unterstützt, gar verweigert werden.

Gesamtgesellschaftlich betrachtet entstanden dadurch Bruckner zufolge nicht nur "Nationen innerhalb der Nationen" (ebd.) - aus einem Übermass an Respekt würde die Identität der Individuen auch aufs Neue durch starre ethnische Definitionen festgeschrieben und die Möglichkeit einer Loslösung des Einzelnen aus der Welt der Tradition blockiert.

"Im Namen der Vielfalt schafft man ethnische oder religiöse Kerker, deren Insassen die Privilegien der Mehrheitsgesellschaft verwehrt bleiben." (S.64)


"Rassismus des Antirassismus" (S.67) nennt Bruckner jenen Multikulturalismus angelsächsischer Prägung mit der Tendenz, den Respekt vor dem Anderen bis zum Nimbus von Unüberwindbarkeit zu verabsolutieren: Die Zementierung der Andersartigkeit im Namen der Vielfalt schaffe neue Minderheitenghettos, neue Segregationsprozesse würden beflügelt durch den ebenso unterschwelligen wie verachtenden Vorhalt einer Unfähigkeit zur Modernisierung der kulturellen Traditionsbestände.


Ian Buruma: Die Freiheit kann nicht staatlich verordnet werden.

Buruma wendet sich gegen die Eindampfung der Religion zu einer islamischen "monolithischen Bedrohung" (S.76): Auch Hirsi-Ali führe alle Missstände und selbst den Extremismus auf einen als eindimensional gedachten Islam zurück und missachte damit die Vielzahl der soziokulturellen Ausprägungen und regionalen Traditionen in den religiösen Praktiken der islamischen Welt. Die pauschale Verurteilung des Islam als generell rückständig und latent gewalttätig sei angesichts des Projektes einer Reformierung bzw. einer weiterführenden Integration der Muslime in Europa äußerst kontraproduktiv.


Ian Buruma: Wer ist Tariq Ramadan?

Tariq Ramadan, Enkel von Hassan al-Banna, der 1928 die Muslimbruderschaft gründete, Sohn von Said Ramadan, einem Verfechter des politischen Islam und Repräsentanten der Bruderschaft, wuchs im Schweizer Exil auf und erfuhr neben der traditionell religiösen Prägung eine europäische Bildungssozialisation. Die akademische Ausbildung erfolgte sowohl in Genf als auch in Kairo an der Al-Azhar-Universität.
Buruma stellt Ramadan als europäisch-muslimischen Intellektuellen, Philosophen und Religionswissenschaftler dar, dessen Suchbewegung vor dem Hintergrund der eigenen Biographie auf die Erforschung der Berührungspunkte, Übereinstimmungen und Verbindungen zwischen den westlichen und den islamischen Kulturen ausgerichtet sei.

Ramadans Veröffentlichungen kreisen um eine Vereinbarkeit von muslimischen Identitäten und religiösen Traditionen mit den Errungenschaften westlicher Zivilgesellschaft - umstritten sind seine Thesen daher in beiden Sphären gleichermaßen. Seinem Selbstverständnis entspricht ein religiös motivierter Universalismus, bei dem sich "religiöse Prinzipien mit antikapitalistischen und antiimperialistischen Haltungen" (S. 99) in einer Art islamischer Sozialismus verbinden. In der Kritik steht für Ramadan dabei vor allem die globale Ungerechtigkeit der ökonomisch vom Westen dominierten neoliberalen Weltordnung in der Nachfolge des Kolonialismus. Dem wird die Idee einer Stärkung von Gleichheit und Gerechtigkeit im Geiste eines islamisch inspirierten Werte-Universalismus entgegengehalten, worin Kritiker trotz der antikapitalistischen Richtung eine Aushebelung des Säkularismus durch religiöse Bigotterie erblicken.


Necla Kelek: Die Stereotype des Mr. Buruma

Kelek widerspricht Ian Burumas Einschätzung einer Vielfältigkeit der islamischen Religion, die sie für den grundsätzlichen Bereich jenseits äußerlicher Erscheinungsformen negiert: Aussagen über 'den Islam' seien sehr wohl möglich, da er "[i]n seinen Schriften und in seiner Philosophie [...] ein geschlossenes Menschen- und Weltbild" (S. 111) vertritt. Ausdruck dieser inneren Homogenität sei die 1990 von 45 Vertretern muslimischer Staaten unterzeichnete Kairoer Erklärung der Menschenrechte, die sich auf die islamische Scharia, mithin auf den Koran und die islamische Unna als letzte Instanz der Legitimation beruft. Ausdrücklich werden die religiösen Gebote als höchster und unveränderlicher Wert festgeschrieben. Die kulturelle Identität, die hier gestiftet werden soll, so Kelek, findet hinsichtlich der gesellschaftlichen Praxis ihren Ausdruck in der rechtlichen Ungleichstellung und der Trennung der Geschlechter, einem Kernanliegen des politischen Islam.


Paul Cliteur: Krieger ist nicht gleich Krieger

Radikaler kultureller Relativismus als Effekt eines postmodern inspirierten Multikulturalismus diagnostiziert Cliteur in den gegenwärtigen europäischen Debatten. Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen politischen Tradition, mit Kolonialismus und Totalitarismus sei längst umgeschlagen in eine grundsätzliche Abwertung der eigenen Geschichte, in deren Sog auch die Werte der Aufklärung und die Universalität von Vernunft, Demokratie und Menschenrechten einem fundamentalen Relativismus unterworfen würden. Diese Verschiebungen haben Cliteur zufolge massive Folgen für die innere Verfassung der liberalen Gesellschaften des Westens: Nationale Gebräuche würden verabsolutiert und jede Forderung nach Anpassung erscheint als Zumutung. Kritik sei nicht mehr begründbar und stehe unter dem Verdacht der Provokation, Universalismusansprüche sind fundamentalismusverdächtig.

"Der ganze Denkansatz, der die Ideale der Aufklärung, eingeschlossen Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, verficht, soll durch eine Glorifizierung des 'Anderen' ersetzt werden, durch nichtwestliche Kulturen und vor allem durch die Überzeugung, dass alle Kulturen gleich wertvoll sind." (118f)


Solchen kulturellen Relativismus findet Cliteur in Die Grenzen der Toleranz von Ian Buruma, dem er vorwirft, radikal-fundamentalistischen Islamismus mit radikaler säkularer Aufklärung gleichzusetzen: Beide seien Buruma zufolge geprägt und verbunden durch einen nichtrelativisitischen, kämpferischen Werte-Universalismus.
Mit Negation von zentralen Werten der westlichen Gesellschaften, mit der Aufgabe des Glaubens an die Überlegenheit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegeüber Theokratie und Autoritarismus schwinde aber, so Cliteur, sowohl die Attraktivität als auch die Widerstandsfähigkeit des liberalen Institutionen gegenüber religiösem Fundamentalismus.


Ian Buruma: Der Dogmatismus der Aufklärung

[...]

Herfried Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften

In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Hg. von K.-H. Bohrer und Kurt Scheel. Bd. 61 (2007) H.8/9. S.742-752.

Heroischen Gesellschaften ist der Gedanke des Opfers zentral: Erst die Bereitschaft zur Hingabe auch des eigenen Lebens im Dienst der Gesellschaft erbringt die Fülle des Prestiges für den Helden. Da die Opferidee ohne religiösen Transzendenzbezug nicht vorstellbar ist, führt die Auflösung religiöser Verbindlichkeiten in postheroische Verhältnisse. Nur solange Gesellschaften es vermögen, das Opfern des Lebens symbolisch (religiös oder ideologisch) und sozial integrierend aufzuladen, bleibt das Heroische intakt. Unabdingbar sei dabei, so Münkler, die narrativ-literarische Verdopplung des Helden, die als Gestaltung des heroischen Diskurses "die Regeln und Codices hervorbringt und kontrolliert, nach denen Gewaltanwendung zulässig und ehrenhaft ist." (744) Erst die Formation des Heldendiskurses durch Literatur schafft ein Ethos des Heroischen.

Auch die geschichtspessimistische Klage über Niedergang und Verfall, über die epochale Dekadenz der Gegenwart, gehört zum Narrativ des heroischen Heldenliedes, dessen Perspektive stets rückwärtsgewandt ist und das Gegenwart wie Zukunft als tragisches Untergangsszenario imaginiert. Die Brisanz heroischer Gesellschaften liegt nun in ihrer Affinität zur kriegerischen Gewalt als Mittel der Erneuerung gegen drohenden Niedergang.

Heroische Dispositionen gründen eher in der Sozialität der Gemeinschaft (gemeinsame Abstammungs- oder Wertvorstellungen) als in der Form der Gesellschaft (funktionale Organisation), gegen die sich die heroische Gemeinschaft durch ein spezifisches Ethos exklusiv abgrenzt. Ihre Existenzbedinungen bildet einerseits die stets von Erosion bedrohte Grenzziehung zur Umwelt, andererseits bedarf sie "periodischer Revitalisierung" (748) in der Ausnahmesituation des kriegerischen Kampfes.

Kennzeichnend für die europäische Moderne sei nun eine Ausweitung heroischer Exklusivität hin zur breiten nationalen Inklusionsfunktion heroischer Mentalitäten wie Opferbereitschaft und Ehrakkumulation. Mit dieser Entstehung heroischer Gesellschaften sei ein Ende des Dekadenznarrativs einhergegangen; an dessen Stelle trat nun ein "Zustand der Dauererregung" (749) von aggressiver Siegesgewissheit. Auf die totale Verausgabung im Kriegsfall folge nun der Übergang ins Stadium einer postheroischen Gesellschaft und die Relativierung heroischer Dispositionen, gedeutet als Fortschritts- und Lernprozess.

Problematisch im globalen Maßstab sei die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Während der Westen bereits ins postheroische Zeitalter eingetreten ist, blühen in anderen Teilen der Welt heroische Mentalitäten auf materieller (Vielzahl der Söhne) und ideeller Grundlage (religiöse Vorstellungen). Fundamentalistischer Terrorismus sei auch zu verstehen als Herausforderung postheroischer Gesellschaften durch heroische Gemeinschaften mit allen Folgeerscheinungen eines asymetrischen Konfliktes.

4. Oktober 2007

Norbert Bolz: Die Religion des letzten Menschen

In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Hg. von K.-H. Bohrer und Kurt Scheel. Bd. 61 (2007) H.8/9. S.691-698.

In Nietzsches Version des Posthistoire erscheint der ‚Letzte Mensch’ als Gegentypus des Übermenschen in jenem nachgeschichtlichen Zustand, in dem die Moral des Christentums und der Demokratie jedes Merkmal von Individualität in totaler Uniformierung nivelliert haben wird. Für seine Diagnose der Heraufkunft eines Zeitalters von Nachgeschichtlichkeit, in der jener alles bewegende ‚Wille zur Macht’ im Verschwinden begriffen ist, glaubte Nietzsche bereits um 1900 die Symptome zu erkennen; gleichwohl war sie lediglich der Auftakt eines Jahrhunderts, das den geschichtlichen Menschen, seine Kämpfe, seine Revolutionen, seine Philosophie, das die Geschichte selbst immer wieder zur Vergangenheit erklären sollte: Spengler, Kojève, Adorno bis hin zu Fukuyama haben als Theoretiker des Posthistoire aus unterschiedlichen Perspektiven einen Zustand kultureller und historischer Kristallisation beschrieben, in dem jede Veränderung in zunehmendem Maße nur noch als Kombinationsspiel aus dem Repertoire des bereits Gewesenen erscheint.
In der Gegenwart eines sozialdemokratischen Wohlfahrts-Zeitalters schwedischer Prägung, in der ein Utilitarismus herrscht, der „keinen Sinn für Freiheit hat“ (693) und Bequemlichkeit und Untertanengeist produziert, sieht Bolz dann die Postmoderne zu sich selbst gekommen: als Zustand des dekadenten Niedergangs.

„Vater Staat will nicht, daß seine Kinder erwachsen werden.“ (696)

Im Politischen kehrt die Dekadenz demnach als soziale Frage wieder: ‚Soziale Gerechtigkeit’ als unhintergehbarer Begriff von quasitheologischer Verbindlichkeit. Es herrsche eine Vergötzung des Sozialen, der Arbeit und des Kollektivs, zusammengeschossen z.B. in der modernen Version des ‚Teamworks’, einem Euphemismus für die Austreibung von Individualität und Wettbewerb.
Viel schwerwiegender aber: Die materielle Umverteilungspraxis des Wohlfahrtsstaates zementiere die Antriebslosigkeit, führe zur „politische[n] Stabilisierung der Unmündigkeit“ (694) und mache die Begünstigten des Sozialstaates daher zu seinen eigentlichen Opfern. Fortan herrsche im paternalistischen Sozialstaat eine ‚erlernte Hilflosigkeit’: Gestützt durch die Subventionierung des Ressentiments und eine vorsorgende Fürsorge züchte er den ‚betreuten Menschen’. Sicherheit wird erkauft durch die Gleichheit der Unfreien und Unselbständigen – der väterliche Staat entpuppt sich so als Form des Despotismus.

Die Ökumene der Ängstlichen

An die Stelle traditioneller religiöser Bindungen sind multiple Sozial- und Zivilreligionen getreten: Gesundheit und Sicherheit, Sozialfürsorge und Umweltschutz als Aspekte von Heilsversprechen beziehen ihre Legitimation nicht nur aus der Sehnsucht nach Einfachheit, sondern mehr noch aus ihrer dialektischen Bezogenheit auf die allgegenwärtigen Hysterien und Erwartungen von Unheil und Katastrophe. Selbstverwirklichung wird Heilsweg im Vakuum der Rede vom metaphysischen Sinnverlust. Die Postmoderne antwortet auf die Frage nach dem Seelenheil nicht mehr mit Gott, sondern mit Gesellschaft (Revolution) und Ich (Therapie).
Vorerst letzte Heimstätte der Religiosität und Schauplatz der Sinnstiftungen des Letzten Menschen sieht Bolz im postmodern vollendeten Konsumismus, in der erfolgreichen Transformation jedes affirmativen, spirituellen oder kritischen Inhaltes in die kultische Ordnung des Konsumismus:
„Revolte und Mode sind beides soziale Heilsgottesdienste.“ (698)

26. September 2007

Thomas E. Schmidt: Der dekadente Westen ist nicht müde

Universalismus statt Resignation.

In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Hg. von K.-H. Bohrer und Kurt Scheel. Bd. 61 (2007) H.8/9. S.699-708.


Der Nukleus der westlichen Fortschrittsentwicklung sei die Naturkonstante einer anthropologischen Mangelsituation: Letztlich waren es "die ewige Angst und der ewige Hunger" (700), mithin die Bedingungen notwendiger Selbsterhaltung, die die Dynamik einer Fortschrittsentwicklung in Gang brachten, in deren Zeichen abendländische Rationalität Ökonomie und Technik im Dienste von Sicherheit und Versorgung formierte.

Für die Gegenwart konstatiert Schmidt nun das langsame Erlahmen der durch eine Jahrhunderte lang gültige Selbsterhaltungsmoral angetriebenen Fortschrittsdynamik. Unter der Einwirkung der in den westlichen Gesellschaften universalen "staatlich garantierten Überlebenschance" (ebd.), d.h. mit der historischen Durchsetzung des Wohlfahrtsstaates, sei das historisch gerichtete Antriebsmoment der Geschichte außer Kraft gesetzt worden.

"Der historische Ausfall der Natur"

Hinzu kommt die engültige Zähmung und Einhegung einer ehemals bedrohlichen, nun technisch-wissenschaftlich besiegten, ihres Widerstandes entledigten Natur. Die Konsequenzen sind tiefgehend: Einer ökonomischen wie moralischen Entwertung von Produktions- und Industriearbeit entspricht ein neuer Arbeitsbegriff, der auf eine, vom Interessenkalkül entlastete, kreative Gestaltung im Dienste voluntativer Zwecksetzungen abzielt.

"Wenn das Glück des Menschen künftig in der Freiheit zur Selbsterfindung und nicht mehr in seinen mühsam erworbenen Gütern oder in seinen ebenso mühevoll errichteten politischen Institutionen liegt, relativiert sich der Status von Ökonomie und Geschichte." (703)

Postliberalismus und Posthistoire begrenzen das Fortschritts-Narrativ des Westens, so Schmidt, indem „auch die Industriemoderne der Selbstaufklärung des Westens zum Opfer“ (704) fällt. In Konfrontation mit dem Fremden innerhalb einer globalisierten Welt und angesichts fundamentaler Delegitimation jeder „Prolongation der Geschichte“ (704) im globalen Maßstab (Globalisierte Ökonomie, Demokratieexport) erscheint der Westen selbst als fremd.

Effekt dieser Prozesse sei nun aber nicht Dekadenz im Sinne endgeschichtlicher Passivität und Resignation; vielmehr wächst aus der posthistorischen Entlegitimierung ein neuer Universalismus der relativierenden und relativierten Perspektivenvielfalt.

„Die westliche Selbstbegrenzung bricht mit der eindimensionalen Perspektive, die eigene Geschichtlichkeit sei die einzig denkbare.“ (705)


Skeptisch ist Schmidt nun aber hinsichtlich der Annahme einer universalen Verbindlichkeit dieser selbstaufgeklärten Rationalität; deren vermeintliche faktische Alternativlosigkeit, wie sie z.B. Fukuyamas Theorie imaginiert, wenn sie den Sieg der westlich-liberalen Demokratie mit einem 'Ende der Geschichte' zusammenfallen sieht, sei letztlich selbst wiederum kulturell geprägt. Und so überrascht es nicht, wenn von Teilen der Welt die "posthistorische Weisheit [des Westens] verneint wird" (706) und man andernorts versucht, zunächst einmal den eigenen Platz im Industriezeitalter zu sichern und aufzuschließen, mithin historisch agiert mit dem Augenmerk auf nationalem Prestige. Der vom Westen eingeforderte Perspektivwechsel im Namen eines normativen Universalismus wird damit verweigert.

18. September 2007

"Dekadenz" - Zum Sonderheft des Merkur

Kein Wille zur Macht - Dekadenz.
So titelt das Sonderheft (1) der von Karl-Heinz Bohrer und Kurt Scheel herausgegebenen Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken. Im Focus des Interesses stehen dabei die vielfältigen "Symptome einer kulturellen und politischen Depression", die seit geraumer Zeit - nicht erst seit den Dekadenzvorwürfen des religiösen Fundamentalismus - zum Diagnoserepertoire intellektueller Selbstbeschreibung der westlichen Gesellschaften gehören. Der Kampfbegriff der "Dekadenz" soll dabei - so der Anspruch der Herausgeber - nach seinen Charakterisierungsmöglichkeiten befragt und im Hinblick auf eine analytisch verfasste kulturelle Standortbestimmung abgeklopft werden. Im Folgenden werden ausgewählte Aufsätze der gewohnt prominenten Autoren (darunter Herfried Münkler, Norbert Bolz und Josef Joffe) exzerpiert.

Karl-Heinz Bohrer: Kein Wille zur Macht

In seinem Auftaktartikel richtet Bohrer sein Augenmerk zunächst auf den traditionellen Kernbereich jeder nationalen Selbstbehauptung: auf das Militärische. Im Falle Deutschlands herrscht hier in der Folge historischer schuldhafter Verstrickung in die Erfahrung totaler Zerstörung nach wie vor ein gesellschaftlich und politisch sanktioniertes Tabu der Durchsetzung nationaler Interessen durch Gewalt. Die Permanenz der pazifistischen Nachkriegsmentalität hätte dabei zu einem ebenso dauerhaften wie irrationalen "Austrittssyndrom" geführt, zum Verzicht auf die Teilnahme an machtpolitischen Strategien überhaupt. Der interventionistische Einsatz der Bundeswehr sei als Kampfeinsatz nach wie vor undenkbar und nur in Form uniformierter Sozialarbeit der deutschen Öffentlichkeit überhaupt zu vermitteln.

Im Rekurs auf Nietzsche wird der gedankliche Bogen dann von Bohrer erweitert: Neben einer spezifisch deutschen (historisch bedingten) Tendenz, politische Macht einerseits und Recht andererseits nur getrennt denken zu können, sei es vor allem der Gedanke des geistig Eminenten mit seiner agonalen Verfassung (wie ihn Nietzsches Willensphilosophie beschreibt), der hierzulande ein provokatives, ja skandalöses Potential behaupte. Infolge der herrschenden Tabuisierung jedes Macht- und Selbstbehauptungswillens, die Willensentfaltung auch im Geistigen per se moralisch verdächtig erscheinen lässt, sei ein alltagspraktisch generalisierter Form-, Präsenz- und Selbstdarstellungsverlust zu konstatieren, eine Art gesamtgesellschaftliches Erlahmen von Willenspräsenz. Dieser Prozess betrifft Bohrer zufolge nicht nur die Erscheinungsformen einer neuen Unterschicht:

"Es gibt kein institutionelles oder gesellschaftliches Vorbild mehr, das bei dem Verlust des Willens dem Willenlosen wieder aufhelfen würde. Die sogenannte Funktionselite, die heute die Geschäfte führt, tut das ohne irgendeinen kulturellen, moralischen oder geistigen Anspruch." (665)


Diese Tendenzen finden ihre Entsprechung wiederum in Prozessen, die Bohrer als Überhandnahme des vulgär Privaten und Subjektiven gegenüber dem Raum von Öffentlichkeit, Politik und Objektivität beschreibt: Architektonisch erfahrbar als Verlust des öffentlichen Raumes zugunsten des Privaten, als Verstellung von Funktionen durch Einrichtungen von Konsum und Nahrungsaufnahme. Massenmedial erfahrbar als Konzentration des Obszönen, Katastrophischen und Trivialen zum Inhalt mit allen Folgen öffentlicher Bewusstseinsbildung.

Bohrers Skizze einer erschlaffenden Gesellschaft mit einem kulturellen, moralischen und politischen Mangel am Willen zur Macht, einer Gesellschaft im Zeichen der Dekadenz, will dann aber doch den Begriff der Macht - abgekühlt, entdämonisiert - noch einmal neu ins Spiel bringen, indem daran erinnert wird, dass ein Verzicht auf den Willen zur Macht gleichbedeutend sei mit dem Verzicht auf den Willen zur Politik.

(1) Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Hg.v. K.-H. Bohrer und K. Scheel. Bd.61 (2007) H.8/9. Zitatnachweise in runden Klammern.

14. August 2005

Gegen den Strich gelesen: Remarques "Im Westen nichts Neues"

Der Literaturwissenschaftler Harro Segeberg, renommierter Experte im Forschungsfeld Literatur, Technik und Medien, hat im Zuge seiner Beschäftigung mit dem Frühwerk Ernst Jüngers (1) interessante Seitenblicke auf einen Klassiker der kriegskritischen Literatur geworfen, auf Erich Maria Remarques Im Westen nicht Neues.

Im Krieg der Moderne, der seinen paradigmatischen Ausdruck in den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges gefunden hat, werden spezifische soziologische Umformungen des Truppenkörpers sichtbar, die, so führt Segeberg im Rückgriff auf Texte Ernst Jüngers einerseits und kulturhistorische Studien andererseits aus, unmittelbar unter dem Druck der technisch-industriellen Überformung des Krieges selbst entstehen.

Denn Schauplatz der modernen Form der Kriegsführung bildet eine apokalyptische Vernichtungzone des permanenten Massensterbens auf Artillerie-Distanz, eine Zone des völligen Orientierungsverlustes und der psychischen und physischen Überforderung des einzelnen Soldaten, der in Folge dessen auf Dauer an der Grenze eines totalen Nervenzusammenbruches agiert. In diesem chaotischen Niemandsland der Vernichtungsschlachten, deren Topographie immer und immer wieder von mörderisch gesteigertem Dauerfeuer umgeformt wird, brechen militärische Hierarchien und formal-disziplinäre Ordnungsstrukturen zusammen. An ihre Stelle treten spontan entstehende, von Jünger verklärte natürliche Gemeinschaften, soziale Primärgruppen, in denen - als Reaktion auf die permanente Vernichtungsdrohung - auf der Basis von Solidarität und sozialer Intimität enorme Bindekräfte freigesetzt werden. Der von Jünger beschworene, dem 'Material' überlegene 'Geist' erscheint in dieser Perspektive als dezentralisierte Eigeninitiative informell-vegetativer face-to-face-groups, die, ohne dass es noch äußerlicher Disziplinierung bedarf, zu Trägern einer anarchischen Kampftätigkeit werden.

Die homogene Kleingruppe wird angesichts der extremen Belastungen des Schlachtfeldes zum letzten Refugium in einer untergehenden Welt, sie funktioniert nach dem Primat einer unbedingten Solidarität, ist in sich hierarchisch ausdifferenziert, teilautonom, Ausdruck eines kreatürlichen Überlebenswillens und eröffnet so Erfahrungen sozialer Konsistenz und Zusammengehörigkeit, die weit jenseits der bürgerlichen Existenz liegen.

"In diesen Primärgruppen wird gearbeitet, gefeiert, geliebt, gestritten, gekämpft und getröstet bis in den Tod hinein mit einer Gefühlsintesität, die aus der Rückschau umso intensiver erlebt wird, je mehr sich die Überlebenden nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg Erfahrungen sozialer Desintegration ausgesetzt finden." (2)

Auch Im Westen nichts Neues verklärt jene Erfahrungen totaler sozialer Integration in der Primärgruppe des Schlachtfeldes, wobei Segeberg nun auf das "Janusgesicht" (3) des Textes hinweist: Wird die Kleingruppe einerseits als Erfahrungsraum intensiver sozialer Bindung erlebt und als solche positiv konnotiert, so bildet sie doch andererseits nicht nur Überlebens-, sondern auch Aggressions- und Gewaltgemeinschaft, soziale Keimzelle der Kampfbereitschaft und des Vernichtungswillens gegenüber einem anonymen Gegner.

So kritisch bis pazifistisch der Grundtenor von Remarques Roman auch ist, die Implikationen soldatischer Kameraderie als Motor der Freisetzung destruktiver Energien und die sozialen Mechanismen einer sich selbst disziplinierenden Kampfgemeinschaft bleiben unhinterfragt.


(1) Harro Segeberg: Regressive Modernisierung. Kriegserlebnis und Moderne-Kritik in Ernst Jüngers Frühwerk. In: ders. (Hg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes 'Arbeit' in der deutschen Literatur (1770-1930).
Tübingen 1991. S.339-378. Zu Remarque vgl. S.48f.
(2) Ebd., S.48.
(3) Ebd.