26. September 2007

Thomas E. Schmidt: Der dekadente Westen ist nicht müde

Universalismus statt Resignation.

In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Hg. von K.-H. Bohrer und Kurt Scheel. Bd. 61 (2007) H.8/9. S.699-708.


Der Nukleus der westlichen Fortschrittsentwicklung sei die Naturkonstante einer anthropologischen Mangelsituation: Letztlich waren es "die ewige Angst und der ewige Hunger" (700), mithin die Bedingungen notwendiger Selbsterhaltung, die die Dynamik einer Fortschrittsentwicklung in Gang brachten, in deren Zeichen abendländische Rationalität Ökonomie und Technik im Dienste von Sicherheit und Versorgung formierte.

Für die Gegenwart konstatiert Schmidt nun das langsame Erlahmen der durch eine Jahrhunderte lang gültige Selbsterhaltungsmoral angetriebenen Fortschrittsdynamik. Unter der Einwirkung der in den westlichen Gesellschaften universalen "staatlich garantierten Überlebenschance" (ebd.), d.h. mit der historischen Durchsetzung des Wohlfahrtsstaates, sei das historisch gerichtete Antriebsmoment der Geschichte außer Kraft gesetzt worden.

"Der historische Ausfall der Natur"

Hinzu kommt die engültige Zähmung und Einhegung einer ehemals bedrohlichen, nun technisch-wissenschaftlich besiegten, ihres Widerstandes entledigten Natur. Die Konsequenzen sind tiefgehend: Einer ökonomischen wie moralischen Entwertung von Produktions- und Industriearbeit entspricht ein neuer Arbeitsbegriff, der auf eine, vom Interessenkalkül entlastete, kreative Gestaltung im Dienste voluntativer Zwecksetzungen abzielt.

"Wenn das Glück des Menschen künftig in der Freiheit zur Selbsterfindung und nicht mehr in seinen mühsam erworbenen Gütern oder in seinen ebenso mühevoll errichteten politischen Institutionen liegt, relativiert sich der Status von Ökonomie und Geschichte." (703)

Postliberalismus und Posthistoire begrenzen das Fortschritts-Narrativ des Westens, so Schmidt, indem „auch die Industriemoderne der Selbstaufklärung des Westens zum Opfer“ (704) fällt. In Konfrontation mit dem Fremden innerhalb einer globalisierten Welt und angesichts fundamentaler Delegitimation jeder „Prolongation der Geschichte“ (704) im globalen Maßstab (Globalisierte Ökonomie, Demokratieexport) erscheint der Westen selbst als fremd.

Effekt dieser Prozesse sei nun aber nicht Dekadenz im Sinne endgeschichtlicher Passivität und Resignation; vielmehr wächst aus der posthistorischen Entlegitimierung ein neuer Universalismus der relativierenden und relativierten Perspektivenvielfalt.

„Die westliche Selbstbegrenzung bricht mit der eindimensionalen Perspektive, die eigene Geschichtlichkeit sei die einzig denkbare.“ (705)


Skeptisch ist Schmidt nun aber hinsichtlich der Annahme einer universalen Verbindlichkeit dieser selbstaufgeklärten Rationalität; deren vermeintliche faktische Alternativlosigkeit, wie sie z.B. Fukuyamas Theorie imaginiert, wenn sie den Sieg der westlich-liberalen Demokratie mit einem 'Ende der Geschichte' zusammenfallen sieht, sei letztlich selbst wiederum kulturell geprägt. Und so überrascht es nicht, wenn von Teilen der Welt die "posthistorische Weisheit [des Westens] verneint wird" (706) und man andernorts versucht, zunächst einmal den eigenen Platz im Industriezeitalter zu sichern und aufzuschließen, mithin historisch agiert mit dem Augenmerk auf nationalem Prestige. Der vom Westen eingeforderte Perspektivwechsel im Namen eines normativen Universalismus wird damit verweigert.

18. September 2007

"Dekadenz" - Zum Sonderheft des Merkur

Kein Wille zur Macht - Dekadenz.
So titelt das Sonderheft (1) der von Karl-Heinz Bohrer und Kurt Scheel herausgegebenen Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken. Im Focus des Interesses stehen dabei die vielfältigen "Symptome einer kulturellen und politischen Depression", die seit geraumer Zeit - nicht erst seit den Dekadenzvorwürfen des religiösen Fundamentalismus - zum Diagnoserepertoire intellektueller Selbstbeschreibung der westlichen Gesellschaften gehören. Der Kampfbegriff der "Dekadenz" soll dabei - so der Anspruch der Herausgeber - nach seinen Charakterisierungsmöglichkeiten befragt und im Hinblick auf eine analytisch verfasste kulturelle Standortbestimmung abgeklopft werden. Im Folgenden werden ausgewählte Aufsätze der gewohnt prominenten Autoren (darunter Herfried Münkler, Norbert Bolz und Josef Joffe) exzerpiert.

Karl-Heinz Bohrer: Kein Wille zur Macht

In seinem Auftaktartikel richtet Bohrer sein Augenmerk zunächst auf den traditionellen Kernbereich jeder nationalen Selbstbehauptung: auf das Militärische. Im Falle Deutschlands herrscht hier in der Folge historischer schuldhafter Verstrickung in die Erfahrung totaler Zerstörung nach wie vor ein gesellschaftlich und politisch sanktioniertes Tabu der Durchsetzung nationaler Interessen durch Gewalt. Die Permanenz der pazifistischen Nachkriegsmentalität hätte dabei zu einem ebenso dauerhaften wie irrationalen "Austrittssyndrom" geführt, zum Verzicht auf die Teilnahme an machtpolitischen Strategien überhaupt. Der interventionistische Einsatz der Bundeswehr sei als Kampfeinsatz nach wie vor undenkbar und nur in Form uniformierter Sozialarbeit der deutschen Öffentlichkeit überhaupt zu vermitteln.

Im Rekurs auf Nietzsche wird der gedankliche Bogen dann von Bohrer erweitert: Neben einer spezifisch deutschen (historisch bedingten) Tendenz, politische Macht einerseits und Recht andererseits nur getrennt denken zu können, sei es vor allem der Gedanke des geistig Eminenten mit seiner agonalen Verfassung (wie ihn Nietzsches Willensphilosophie beschreibt), der hierzulande ein provokatives, ja skandalöses Potential behaupte. Infolge der herrschenden Tabuisierung jedes Macht- und Selbstbehauptungswillens, die Willensentfaltung auch im Geistigen per se moralisch verdächtig erscheinen lässt, sei ein alltagspraktisch generalisierter Form-, Präsenz- und Selbstdarstellungsverlust zu konstatieren, eine Art gesamtgesellschaftliches Erlahmen von Willenspräsenz. Dieser Prozess betrifft Bohrer zufolge nicht nur die Erscheinungsformen einer neuen Unterschicht:

"Es gibt kein institutionelles oder gesellschaftliches Vorbild mehr, das bei dem Verlust des Willens dem Willenlosen wieder aufhelfen würde. Die sogenannte Funktionselite, die heute die Geschäfte führt, tut das ohne irgendeinen kulturellen, moralischen oder geistigen Anspruch." (665)


Diese Tendenzen finden ihre Entsprechung wiederum in Prozessen, die Bohrer als Überhandnahme des vulgär Privaten und Subjektiven gegenüber dem Raum von Öffentlichkeit, Politik und Objektivität beschreibt: Architektonisch erfahrbar als Verlust des öffentlichen Raumes zugunsten des Privaten, als Verstellung von Funktionen durch Einrichtungen von Konsum und Nahrungsaufnahme. Massenmedial erfahrbar als Konzentration des Obszönen, Katastrophischen und Trivialen zum Inhalt mit allen Folgen öffentlicher Bewusstseinsbildung.

Bohrers Skizze einer erschlaffenden Gesellschaft mit einem kulturellen, moralischen und politischen Mangel am Willen zur Macht, einer Gesellschaft im Zeichen der Dekadenz, will dann aber doch den Begriff der Macht - abgekühlt, entdämonisiert - noch einmal neu ins Spiel bringen, indem daran erinnert wird, dass ein Verzicht auf den Willen zur Macht gleichbedeutend sei mit dem Verzicht auf den Willen zur Politik.

(1) Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Hg.v. K.-H. Bohrer und K. Scheel. Bd.61 (2007) H.8/9. Zitatnachweise in runden Klammern.