27. Juni 2014

Eric Schlosser: Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit.

Von den zahlreichen Betriebsunfällen und Beinahe-Katastrophen im Zusammenhang mit nuklearen Waffen sind nur wenige einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangt. Der amerikanische Journalist und Historiker Eric Schlosser hat mit Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit ein umfassende Studie über die potentiellen Gefahren und deren technische wie strukturelle Ursachen vorgelegt. Der Vorzug von Schlossers Geschichte der amerikanischen Atomrüstung liegt im Bemühen, die faktische Unsicherheit von Atomwaffen nicht nur auf technologischer Ebene zu beleuchten, sondern als logische Folge der strategischen und militärisch-politischen Rahmenbedingungen zu interpretieren. Dabei geht es im Kern um den Widerspruch zwischen einer effizienten Kontrolle über eine Waffe von schier unfassbarer Vernichtungsgewalt einerseits und andererseits der Etablierung von Kommandostrukturen, die unter extremem Zeitdruck von der Frühwarnung bis zum Einsatzbefehl nahezu unfehlbar funktionieren sollten.

In Schlossers kursorischer Rekonstruktion der Geschichte amerikanischer Nuklearrüstung erscheint die Angst vor dem atomaren Erstschlag, der zugleich als strategischer Enthauptungsschlag ausgeführt wird und damit die Möglichkeit einer Vergeltung unterbindet, als zentrales politisches Moment aller Phasen der atomaren Aufrüstung von den 50er bis zu den 80er Jahren. Heute weiß man, dass diese Ängste zu einem großen Teil politischer und rüstungswirtschaftlicher Lobbyarbeit zu verdanken waren: Weder gab es bis 1961 eine 'Raketenlücke', noch hatte das um 1978 propagierte 'Zeitfenster der Verwundbarkeit' echte strategische Evidenz. Andererseits existierten Überlegungen zu einem atomaren Erstschlag durchaus auch auf Seiten der USA, und zwar nicht nur als militärische Planspiele, sondern als Diskussionsvorlage, z.B. unter Kennedy, bis hinauf zur präsidialen Ebene.

Im Zentrum der amerikanischen Nuklearkriegs-Planung stand ab 1961 der Single Integrated Operational Plan (SIOP), ein gemeinsamer Operationsplan für alle nuklearen Teilstreitkräfte, dessen Kern ein umfassendes Zielverzeichnis bildete. Einmal in Gang gesetzt, glich der SIOP einer infernalischen und zugleich starr-mechanistisch ablaufenden Vernichtungswalze, die der Zivilisation in den Staaten des Ostblockes ein nukleares Ende gesetzt hätte. Schlosser dokumentiert eindrucksvoll, wie über Jahrzehnte sowohl Militärangehörige als auch politisch Verantwortliche neuer Administrationen beim Einblick in den geheimen SIOP fassungslos waren angesichts der vollkommen überzogenen Massenvernichtung, die die verantwortlichen Planungsstäbe ausgebrütet hatten. Strategisch wichtige Ziele sollten vielfach von Nuklearwaffen getroffen werden, insgesamt sollten tausende von Atom- und Wasserstoffbomben auf die Sowjetunion niedergehen. Auch heute im Rückblick noch als wichtig eingeschätzte strategische Konzepte wie Robert McNamaras 'Flexible Response', deren Ansatz die Begrenzung und Verhältnismäßigkeit nuklearer Vergeltung waren, fanden im SIOP kaum Niederschlag, so Schlosser. Selbst angesichts der Ende der 60er Jahre propagierten Strategie der 'gesicherten gegenseitigen Vernichtung' (Mutually assured destruktion, MAD) waren die im SIOP angelegten Angriffspläne quantitativer Irrsinn.

„Mehr als vierzig Jahre waren alle Bemühungen gescheitert, den SIOP zu bändigen, zu begrenzen, zu reduzieren und logisch vernünftig zu gestalten. „Abgesehen vielleicht vom sowjetischen Nuklearkriegsplan war dies das absurdeste und verantwortungsloseste Dokument, das ich in meinem ganzen Leben jemals zu Gesicht bekommen habe“, sagte General Butler [der Oberbefehlshaber des Strategic Air Command ab 1991, M.M.] im Rückblick.“ (S. 516)

Das Overkill-Potential der nuklearen Rüstung der Supermächte war damit keine rein rechnerische Größe, sondern integraler Bestandteil der strategischen Einsatzplanung.

Das immerwährende Spannungsverhältnis zwischen militärischem Souveränitätsanspruch und politischer Kontrolle einerseits sowie die Konkurrenz der Waffengattungen um die effizientesten Vernichtungsmittel andererseits werden als zentrale Faktoren der Verselbstständigung militärischer Kalküle und deren Abkoppelung vom politschen Diskurs herausgestellt. Waren die ersten, in Blechhütten in Handarbeit zusammengeschraubten Atombomben und deren Nachfolger noch der Atomenergie-Kommission unterstellt, so bemühte sich das Militär bis zum Ende der 50er Jahre um die alleinige Verfügungsgewalt über die Nuklearwaffen. Mit Eisenhowers Zugeständnis einer Einsatzerlaubnis ohne präsidiale Anordnung für den Fall, dass die Regierung im Krisenfall nicht mehr erreichbar wäre, war dieses Ziel bereits 1959 erreicht. Der Aufbau des Strategic Air Command (SAC) unter Curtis LeMay in den 50er Jahren sowie die Verlagerung auf land- und seegestützte ballistische Interkontinentalraketen (ICBM) ab den 60er Jahren bilden weitere zentrale Momente in der Geschichte der amerikansichen Atomrüstung. Vor allem im Zeitalter der ICBMs, die, einmal durch den Go-Code gestartet, nicht mehr rückholbar sind, werden die Widersprüche im Hinblick auf eine technische und administrative Kontrolle besonders deutlich. Denn die notwendige Kehrseite der zentralisierten, im Minuten-Zeitfenster aktivierbaren Einsatzbereitschaft bildet ein Kontrolldilemma, das angesichts des potentiellen Schadens mit einem kaum vertretbaren Restrisiko behaftet bleibt. Bei allen Bemühungen, den Frühwarnsystemen mit der jeweils aktuellsten Technik ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit abzuringen, wurden von den Computern zahllose Male Angriffe mit höchster Evidenz vorgegaukelt. Die Bereitschaft, auch die Entscheidungsabläufe den Maschinen zu überlassen, führte mehr als einmal an den Rand des nuklearen Abgrunds, wie Schlosser zeigen kann.

Einen weiteren Schwerpunkt des Buches bildet die technische Sicherheit der amerikanischen Nuklearwaffen. Da das Militär die Bedeutung von Einsatzbereitschaft und Zuverlässigkeit der Waffensysteme über Jahrzehnte stets höher bewertet hat als das Bemühen um Schutzfunktionen gegen Missbrauch und Fehl-Detonationen, waren die Sicherungssysteme beispielsweise bei luftgestützten Wasserstoffbomben bis Ende der 60er Jahre marginal, so Schlosser. Zum Zünden der Bomben kamen einfache, unkodierte Strom-Schaltkreise zum Einsatz. Schon vertauschte Stecker und vergessene Schraubenzieher führten zur Beinahe-Katastrophe. Man muss sich die Bedingungen des Kalten Krieges noch einmal vor Augen führen, um die Risiken zu verstehen, die über Jahrzehnte eingegangen worden sind: Angesichts der 24-Stunden-Luftbereitschaftsflüge, bei denen sich stets mehrere B-52-Bomber mit einsatzbereiten thermonuklearen Waffen über der Nordhalbkugel in der Luft befanden, grenzt es an ein Wunder, dass niemals ein Waffensystem detoniert ist. Abstürze und Bomben-Notabwürfe, bei denen ein solches Szenario denkbar gewesen wäre, kamen nämlich zur Genüge vor. In Punkto Sicherheit setzte das Strategic Air Command vor allem auf die Loyalität der Mannschaften. So kann Schlosser zeigen, dass zeitweise zwei SAC-Offiziere genügt hätten, um eine ganze Staffel Minuteman-Raketen Richtung Sowjetunion auf den Weg zu bringen.

Command and control ist in einem journalistisch lockeren Ton verfasst und setzt bei der minutiösen Darstellung von Unfall-Szenarien teilweise auf thrillerartige Spannungsbögen. Der dezidiert unwissenschaftliche Prosa-Stil beruht zwar auf penibel umfassender Recherche und belastbaren Fakten – 30 Seiten Literaturverzeichnis geben genügend Anregung zur weiterführenden Lektüre. Thematische Zuspitzung und Erkenntnisinteresse drohen allerdings bisweilen im stark anekdotenhaften Erzählfluss verloren zu gehen. Dies gilt vor allem für die Darstellung weiträumiger und komplexer politischer Zusammenhänge, bei deren Darstellung weitgehend einschlägige Akteure aus Politik und Militärapparat in den Fokus gestellt werden. Der historische Kontext amerikanischer Regierungspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg gerät dadurch etwas holzschnittartig, was im Hinblick auf die thematische Zielstellung einer Aufarbeitung der Kommando- und Kontrollstrukturen für die Atomrüstung jedoch zu verschmerzen ist.

Eric Schlosser: Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit.
München 2013.
C.H. Beck Verlag, 597 Seiten.