In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Hg. von K.-H. Bohrer und Kurt Scheel. Bd. 61 (2007) H.8/9. S.691-698.
In Nietzsches Version des Posthistoire erscheint der ‚Letzte Mensch’ als Gegentypus des Übermenschen in jenem nachgeschichtlichen Zustand, in dem die Moral des Christentums und der Demokratie jedes Merkmal von Individualität in totaler Uniformierung nivelliert haben wird. Für seine Diagnose der Heraufkunft eines Zeitalters von Nachgeschichtlichkeit, in der jener alles bewegende ‚Wille zur Macht’ im Verschwinden begriffen ist, glaubte Nietzsche bereits um 1900 die Symptome zu erkennen; gleichwohl war sie lediglich der Auftakt eines Jahrhunderts, das den geschichtlichen Menschen, seine Kämpfe, seine Revolutionen, seine Philosophie, das die Geschichte selbst immer wieder zur Vergangenheit erklären sollte: Spengler, Kojève, Adorno bis hin zu Fukuyama haben als Theoretiker des Posthistoire aus unterschiedlichen Perspektiven einen Zustand kultureller und historischer Kristallisation beschrieben, in dem jede Veränderung in zunehmendem Maße nur noch als Kombinationsspiel aus dem Repertoire des bereits Gewesenen erscheint.
In der Gegenwart eines sozialdemokratischen Wohlfahrts-Zeitalters schwedischer Prägung, in der ein Utilitarismus herrscht, der „keinen Sinn für Freiheit hat“ (693) und Bequemlichkeit und Untertanengeist produziert, sieht Bolz dann die Postmoderne zu sich selbst gekommen: als Zustand des dekadenten Niedergangs.
„Vater Staat will nicht, daß seine Kinder erwachsen werden.“ (696)
Im Politischen kehrt die Dekadenz demnach als soziale Frage wieder: ‚Soziale Gerechtigkeit’ als unhintergehbarer Begriff von quasitheologischer Verbindlichkeit. Es herrsche eine Vergötzung des Sozialen, der Arbeit und des Kollektivs, zusammengeschossen z.B. in der modernen Version des ‚Teamworks’, einem Euphemismus für die Austreibung von Individualität und Wettbewerb.
Viel schwerwiegender aber: Die materielle Umverteilungspraxis des Wohlfahrtsstaates zementiere die Antriebslosigkeit, führe zur „politische[n] Stabilisierung der Unmündigkeit“ (694) und mache die Begünstigten des Sozialstaates daher zu seinen eigentlichen Opfern. Fortan herrsche im paternalistischen Sozialstaat eine ‚erlernte Hilflosigkeit’: Gestützt durch die Subventionierung des Ressentiments und eine vorsorgende Fürsorge züchte er den ‚betreuten Menschen’. Sicherheit wird erkauft durch die Gleichheit der Unfreien und Unselbständigen – der väterliche Staat entpuppt sich so als Form des Despotismus.
Die Ökumene der Ängstlichen
An die Stelle traditioneller religiöser Bindungen sind multiple Sozial- und Zivilreligionen getreten: Gesundheit und Sicherheit, Sozialfürsorge und Umweltschutz als Aspekte von Heilsversprechen beziehen ihre Legitimation nicht nur aus der Sehnsucht nach Einfachheit, sondern mehr noch aus ihrer dialektischen Bezogenheit auf die allgegenwärtigen Hysterien und Erwartungen von Unheil und Katastrophe. Selbstverwirklichung wird Heilsweg im Vakuum der Rede vom metaphysischen Sinnverlust. Die Postmoderne antwortet auf die Frage nach dem Seelenheil nicht mehr mit Gott, sondern mit Gesellschaft (Revolution) und Ich (Therapie).
Vorerst letzte Heimstätte der Religiosität und Schauplatz der Sinnstiftungen des Letzten Menschen sieht Bolz im postmodern vollendeten Konsumismus, in der erfolgreichen Transformation jedes affirmativen, spirituellen oder kritischen Inhaltes in die kultische Ordnung des Konsumismus:
„Revolte und Mode sind beides soziale Heilsgottesdienste.“ (698)
4. Oktober 2007
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