29. November 2007

Islam in Europa.

Eine internationale Debatte. Hg.v. Thierry Chervel und Anja Seeliger.
Frankfurt a.M. 2007 (=edition suhrkamp 2531).


Ayaan Hirsi Ali: Das Recht, zu beleidigen.

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Timothy Garton Ash: Der Islam in Europa.

Ash konstatiert eine Generationen übergreifende Entfremdung unter den europäischen Muslimen, worin er eine der grössten aktuellen Gefahren für das gesellschaftliche Gefüge der liberalen Demokratien in Europa sieht. Diese Entfremdung - mit der Folge einer Anfälligkeit für Extremismus - nähre sich aus den Ressentiments der (post)-christlichen weißen Mehrheitseuropäer und trage zugleich zu ihnen bei. An Brisanz gewinnen diese desintegrativen Tendenzen durch die aufgrund weiterer Immigration, hoher Geburtenraten und absehbarer EU-Erweiterungen steigende Zahl von muslimischen EU-Bürgern.

Im Anschluss an Überlegungen Ian Burumas zum Mord Mohammed Bouyeris an Theo van Gogh in seinem Buch Das Ende der Toleranz wirbt Ash für den Versuch einer Auseinandersetzung mit der Täterperspektive: Auch Nachkommen aus Migrantenfamilien lebten oftmals in einer orientierungslosen Situation kultureller Gespaltenheit und pathologischer Entwurzelung, die in der Zerrissenheit und der daraus resultierenden Radikalisierung Bouyeris paradigmatisch zum Ausdruck gekommen sei - auch hinsichtlich eines typischen Umschlages von einer Annäherung an die säkulare europäische Kultur in radikale Ablehnung, als Gang in die islamistische Gewaltspirale.

Ash bezeugt seinen Respekt vor dem Mut und der Geradlinigkeit Ayaan Hirsi Alis, kritisiert aber ihre schlichte Rückführung der Unterdrückung von Frauen (von der generellen sozialen Abhängigkeit bis hin zu den verstümmelnden Gewaltexzessen) auf die religiösen Grundprinzipien eines jenseits regionaler und stammeskultureller Ausprägungen als weitgehen homogen gedachten Islams. Ash sieht darin einen 'Fundamentalismus der Aufklärung', der zwar auf der säkular-humanistischen Linie einer europäischen radikalen Religionskritik liegt, der aber zugleich durch die antireligiöse Grundausrichtung keinerlei Perspektive bietet, an die Muslime anknüpfen könnten.

In der Realität eines komplexen Beziehungsgeflechtes zwischen Europa und dem Islam müssen wir "uns darüber klar werden, was wir für unseren europäischen Lebensstil als wesentlich betrachten und was als verhandelbar" (S.49), so Ash, dem die Redefreiheit fundamental erscheint, die Kopftuchfrage in Frankreich hingegen nicht. Kritisiert werden gleichermaßen Formen der "Besänftigungspolitik" (S.50) im Namen eines Multikulturalismus, der die essentiellen liberalen Existenzgrundlagen vergessen hat, als auch die Identifikation mit globalpolitischen Opferrollen auf Seiten der Muslime.


Pascal Bruckner: Fundamentalismus der Aufklärung oder Rassismus der Antirassisten?

Entgegen den Perspektiven von Buruma und Ash fordert Bruckner eine differenziertere Sicht auf die Thesen von Hirsi-Ali und anderen weiblichen Islam-Kritikerinnen: Indem diese die fehlende Modernisierung des Islam und die teilweise inhumanen Strukturen der Religion im Namen liberaler Werte anprangerten, machten sie lediglich von urdemokratischen Rechten Gebrauch. Sie angesichts dessen mit einem Fundamentalismus-Vorwurf zu konfrontieren, d.h. ausgerechnet die Reformkräfte des Islam zu attakieren, sei nicht nur anmaßend, sondern auch Ausdruck eines falsch verstandenen Multikulturalismus, dem das Erbe der Aufklärung, der Glaube an die Universalität der Menschenrechte, zu entgleiten droht.

Ursächlich für die Selbstvergessenheit westlicher Intellektueller sei nicht nur die selbstkritische Tendenz der (Post)-Moderne (die radikale Selbstaufklärung und Delegitimation der klassischen Aufklärung), sondern vor allem auch ein Freiheitsbegriff, der im Fahrwasser antiimperialistischer Ethnologie das Ideal des Multikulturalismus aufgerichtet hat: Ursprünglich im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens der Ethnien auf einem Territorium entstanden, gründet sich dieser Multikulturalismus auf den Glauben an die "Einzigartigkeit und Legitimität" (S.61) jeder Gruppe, was wiederum mit einem Relativismus der Werte einherginge. An die Stelle des Ideals der Universalität freiheitlicher und humaner Menschenrechte sei unter dem Vorwurf eines "naiven Ethnozentrismus" (S. 61) faktisch die Unantastbarkeit der Differenz getreten.

Effekt sei die Entstehung hermetischer Gemeinschaften mit starkem Interesse an Abgrenzung gegen die soziale Umwelt und an Bewahrung der eigenen traditionellen Wertsysteme gerade auch im Hinblick auf die eigenen Mitglieder. Hier nun wird für Bruckner das "Paradoxon des Multikulturalismus" (S.62) sichtbar, wenn die Rechte der Gemeinschaft zwar klaglos anerkannt und verteidigt, zugleich aber emanzipatorische Anliegen der Individuen, die Loslösung aus den Zwängen der ethnischen Tradition, nicht unterstützt, gar verweigert werden.

Gesamtgesellschaftlich betrachtet entstanden dadurch Bruckner zufolge nicht nur "Nationen innerhalb der Nationen" (ebd.) - aus einem Übermass an Respekt würde die Identität der Individuen auch aufs Neue durch starre ethnische Definitionen festgeschrieben und die Möglichkeit einer Loslösung des Einzelnen aus der Welt der Tradition blockiert.

"Im Namen der Vielfalt schafft man ethnische oder religiöse Kerker, deren Insassen die Privilegien der Mehrheitsgesellschaft verwehrt bleiben." (S.64)


"Rassismus des Antirassismus" (S.67) nennt Bruckner jenen Multikulturalismus angelsächsischer Prägung mit der Tendenz, den Respekt vor dem Anderen bis zum Nimbus von Unüberwindbarkeit zu verabsolutieren: Die Zementierung der Andersartigkeit im Namen der Vielfalt schaffe neue Minderheitenghettos, neue Segregationsprozesse würden beflügelt durch den ebenso unterschwelligen wie verachtenden Vorhalt einer Unfähigkeit zur Modernisierung der kulturellen Traditionsbestände.


Ian Buruma: Die Freiheit kann nicht staatlich verordnet werden.

Buruma wendet sich gegen die Eindampfung der Religion zu einer islamischen "monolithischen Bedrohung" (S.76): Auch Hirsi-Ali führe alle Missstände und selbst den Extremismus auf einen als eindimensional gedachten Islam zurück und missachte damit die Vielzahl der soziokulturellen Ausprägungen und regionalen Traditionen in den religiösen Praktiken der islamischen Welt. Die pauschale Verurteilung des Islam als generell rückständig und latent gewalttätig sei angesichts des Projektes einer Reformierung bzw. einer weiterführenden Integration der Muslime in Europa äußerst kontraproduktiv.


Ian Buruma: Wer ist Tariq Ramadan?

Tariq Ramadan, Enkel von Hassan al-Banna, der 1928 die Muslimbruderschaft gründete, Sohn von Said Ramadan, einem Verfechter des politischen Islam und Repräsentanten der Bruderschaft, wuchs im Schweizer Exil auf und erfuhr neben der traditionell religiösen Prägung eine europäische Bildungssozialisation. Die akademische Ausbildung erfolgte sowohl in Genf als auch in Kairo an der Al-Azhar-Universität.
Buruma stellt Ramadan als europäisch-muslimischen Intellektuellen, Philosophen und Religionswissenschaftler dar, dessen Suchbewegung vor dem Hintergrund der eigenen Biographie auf die Erforschung der Berührungspunkte, Übereinstimmungen und Verbindungen zwischen den westlichen und den islamischen Kulturen ausgerichtet sei.

Ramadans Veröffentlichungen kreisen um eine Vereinbarkeit von muslimischen Identitäten und religiösen Traditionen mit den Errungenschaften westlicher Zivilgesellschaft - umstritten sind seine Thesen daher in beiden Sphären gleichermaßen. Seinem Selbstverständnis entspricht ein religiös motivierter Universalismus, bei dem sich "religiöse Prinzipien mit antikapitalistischen und antiimperialistischen Haltungen" (S. 99) in einer Art islamischer Sozialismus verbinden. In der Kritik steht für Ramadan dabei vor allem die globale Ungerechtigkeit der ökonomisch vom Westen dominierten neoliberalen Weltordnung in der Nachfolge des Kolonialismus. Dem wird die Idee einer Stärkung von Gleichheit und Gerechtigkeit im Geiste eines islamisch inspirierten Werte-Universalismus entgegengehalten, worin Kritiker trotz der antikapitalistischen Richtung eine Aushebelung des Säkularismus durch religiöse Bigotterie erblicken.


Necla Kelek: Die Stereotype des Mr. Buruma

Kelek widerspricht Ian Burumas Einschätzung einer Vielfältigkeit der islamischen Religion, die sie für den grundsätzlichen Bereich jenseits äußerlicher Erscheinungsformen negiert: Aussagen über 'den Islam' seien sehr wohl möglich, da er "[i]n seinen Schriften und in seiner Philosophie [...] ein geschlossenes Menschen- und Weltbild" (S. 111) vertritt. Ausdruck dieser inneren Homogenität sei die 1990 von 45 Vertretern muslimischer Staaten unterzeichnete Kairoer Erklärung der Menschenrechte, die sich auf die islamische Scharia, mithin auf den Koran und die islamische Unna als letzte Instanz der Legitimation beruft. Ausdrücklich werden die religiösen Gebote als höchster und unveränderlicher Wert festgeschrieben. Die kulturelle Identität, die hier gestiftet werden soll, so Kelek, findet hinsichtlich der gesellschaftlichen Praxis ihren Ausdruck in der rechtlichen Ungleichstellung und der Trennung der Geschlechter, einem Kernanliegen des politischen Islam.


Paul Cliteur: Krieger ist nicht gleich Krieger

Radikaler kultureller Relativismus als Effekt eines postmodern inspirierten Multikulturalismus diagnostiziert Cliteur in den gegenwärtigen europäischen Debatten. Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen politischen Tradition, mit Kolonialismus und Totalitarismus sei längst umgeschlagen in eine grundsätzliche Abwertung der eigenen Geschichte, in deren Sog auch die Werte der Aufklärung und die Universalität von Vernunft, Demokratie und Menschenrechten einem fundamentalen Relativismus unterworfen würden. Diese Verschiebungen haben Cliteur zufolge massive Folgen für die innere Verfassung der liberalen Gesellschaften des Westens: Nationale Gebräuche würden verabsolutiert und jede Forderung nach Anpassung erscheint als Zumutung. Kritik sei nicht mehr begründbar und stehe unter dem Verdacht der Provokation, Universalismusansprüche sind fundamentalismusverdächtig.

"Der ganze Denkansatz, der die Ideale der Aufklärung, eingeschlossen Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, verficht, soll durch eine Glorifizierung des 'Anderen' ersetzt werden, durch nichtwestliche Kulturen und vor allem durch die Überzeugung, dass alle Kulturen gleich wertvoll sind." (118f)


Solchen kulturellen Relativismus findet Cliteur in Die Grenzen der Toleranz von Ian Buruma, dem er vorwirft, radikal-fundamentalistischen Islamismus mit radikaler säkularer Aufklärung gleichzusetzen: Beide seien Buruma zufolge geprägt und verbunden durch einen nichtrelativisitischen, kämpferischen Werte-Universalismus.
Mit Negation von zentralen Werten der westlichen Gesellschaften, mit der Aufgabe des Glaubens an die Überlegenheit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegeüber Theokratie und Autoritarismus schwinde aber, so Cliteur, sowohl die Attraktivität als auch die Widerstandsfähigkeit des liberalen Institutionen gegenüber religiösem Fundamentalismus.


Ian Buruma: Der Dogmatismus der Aufklärung

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Herfried Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften

In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Hg. von K.-H. Bohrer und Kurt Scheel. Bd. 61 (2007) H.8/9. S.742-752.

Heroischen Gesellschaften ist der Gedanke des Opfers zentral: Erst die Bereitschaft zur Hingabe auch des eigenen Lebens im Dienst der Gesellschaft erbringt die Fülle des Prestiges für den Helden. Da die Opferidee ohne religiösen Transzendenzbezug nicht vorstellbar ist, führt die Auflösung religiöser Verbindlichkeiten in postheroische Verhältnisse. Nur solange Gesellschaften es vermögen, das Opfern des Lebens symbolisch (religiös oder ideologisch) und sozial integrierend aufzuladen, bleibt das Heroische intakt. Unabdingbar sei dabei, so Münkler, die narrativ-literarische Verdopplung des Helden, die als Gestaltung des heroischen Diskurses "die Regeln und Codices hervorbringt und kontrolliert, nach denen Gewaltanwendung zulässig und ehrenhaft ist." (744) Erst die Formation des Heldendiskurses durch Literatur schafft ein Ethos des Heroischen.

Auch die geschichtspessimistische Klage über Niedergang und Verfall, über die epochale Dekadenz der Gegenwart, gehört zum Narrativ des heroischen Heldenliedes, dessen Perspektive stets rückwärtsgewandt ist und das Gegenwart wie Zukunft als tragisches Untergangsszenario imaginiert. Die Brisanz heroischer Gesellschaften liegt nun in ihrer Affinität zur kriegerischen Gewalt als Mittel der Erneuerung gegen drohenden Niedergang.

Heroische Dispositionen gründen eher in der Sozialität der Gemeinschaft (gemeinsame Abstammungs- oder Wertvorstellungen) als in der Form der Gesellschaft (funktionale Organisation), gegen die sich die heroische Gemeinschaft durch ein spezifisches Ethos exklusiv abgrenzt. Ihre Existenzbedinungen bildet einerseits die stets von Erosion bedrohte Grenzziehung zur Umwelt, andererseits bedarf sie "periodischer Revitalisierung" (748) in der Ausnahmesituation des kriegerischen Kampfes.

Kennzeichnend für die europäische Moderne sei nun eine Ausweitung heroischer Exklusivität hin zur breiten nationalen Inklusionsfunktion heroischer Mentalitäten wie Opferbereitschaft und Ehrakkumulation. Mit dieser Entstehung heroischer Gesellschaften sei ein Ende des Dekadenznarrativs einhergegangen; an dessen Stelle trat nun ein "Zustand der Dauererregung" (749) von aggressiver Siegesgewissheit. Auf die totale Verausgabung im Kriegsfall folge nun der Übergang ins Stadium einer postheroischen Gesellschaft und die Relativierung heroischer Dispositionen, gedeutet als Fortschritts- und Lernprozess.

Problematisch im globalen Maßstab sei die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Während der Westen bereits ins postheroische Zeitalter eingetreten ist, blühen in anderen Teilen der Welt heroische Mentalitäten auf materieller (Vielzahl der Söhne) und ideeller Grundlage (religiöse Vorstellungen). Fundamentalistischer Terrorismus sei auch zu verstehen als Herausforderung postheroischer Gesellschaften durch heroische Gemeinschaften mit allen Folgeerscheinungen eines asymetrischen Konfliktes.