14. August 2005

Gegen den Strich gelesen: Remarques "Im Westen nichts Neues"

Der Literaturwissenschaftler Harro Segeberg, renommierter Experte im Forschungsfeld Literatur, Technik und Medien, hat im Zuge seiner Beschäftigung mit dem Frühwerk Ernst Jüngers (1) interessante Seitenblicke auf einen Klassiker der kriegskritischen Literatur geworfen, auf Erich Maria Remarques Im Westen nicht Neues.

Im Krieg der Moderne, der seinen paradigmatischen Ausdruck in den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges gefunden hat, werden spezifische soziologische Umformungen des Truppenkörpers sichtbar, die, so führt Segeberg im Rückgriff auf Texte Ernst Jüngers einerseits und kulturhistorische Studien andererseits aus, unmittelbar unter dem Druck der technisch-industriellen Überformung des Krieges selbst entstehen.

Denn Schauplatz der modernen Form der Kriegsführung bildet eine apokalyptische Vernichtungzone des permanenten Massensterbens auf Artillerie-Distanz, eine Zone des völligen Orientierungsverlustes und der psychischen und physischen Überforderung des einzelnen Soldaten, der in Folge dessen auf Dauer an der Grenze eines totalen Nervenzusammenbruches agiert. In diesem chaotischen Niemandsland der Vernichtungsschlachten, deren Topographie immer und immer wieder von mörderisch gesteigertem Dauerfeuer umgeformt wird, brechen militärische Hierarchien und formal-disziplinäre Ordnungsstrukturen zusammen. An ihre Stelle treten spontan entstehende, von Jünger verklärte natürliche Gemeinschaften, soziale Primärgruppen, in denen - als Reaktion auf die permanente Vernichtungsdrohung - auf der Basis von Solidarität und sozialer Intimität enorme Bindekräfte freigesetzt werden. Der von Jünger beschworene, dem 'Material' überlegene 'Geist' erscheint in dieser Perspektive als dezentralisierte Eigeninitiative informell-vegetativer face-to-face-groups, die, ohne dass es noch äußerlicher Disziplinierung bedarf, zu Trägern einer anarchischen Kampftätigkeit werden.

Die homogene Kleingruppe wird angesichts der extremen Belastungen des Schlachtfeldes zum letzten Refugium in einer untergehenden Welt, sie funktioniert nach dem Primat einer unbedingten Solidarität, ist in sich hierarchisch ausdifferenziert, teilautonom, Ausdruck eines kreatürlichen Überlebenswillens und eröffnet so Erfahrungen sozialer Konsistenz und Zusammengehörigkeit, die weit jenseits der bürgerlichen Existenz liegen.

"In diesen Primärgruppen wird gearbeitet, gefeiert, geliebt, gestritten, gekämpft und getröstet bis in den Tod hinein mit einer Gefühlsintesität, die aus der Rückschau umso intensiver erlebt wird, je mehr sich die Überlebenden nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg Erfahrungen sozialer Desintegration ausgesetzt finden." (2)

Auch Im Westen nichts Neues verklärt jene Erfahrungen totaler sozialer Integration in der Primärgruppe des Schlachtfeldes, wobei Segeberg nun auf das "Janusgesicht" (3) des Textes hinweist: Wird die Kleingruppe einerseits als Erfahrungsraum intensiver sozialer Bindung erlebt und als solche positiv konnotiert, so bildet sie doch andererseits nicht nur Überlebens-, sondern auch Aggressions- und Gewaltgemeinschaft, soziale Keimzelle der Kampfbereitschaft und des Vernichtungswillens gegenüber einem anonymen Gegner.

So kritisch bis pazifistisch der Grundtenor von Remarques Roman auch ist, die Implikationen soldatischer Kameraderie als Motor der Freisetzung destruktiver Energien und die sozialen Mechanismen einer sich selbst disziplinierenden Kampfgemeinschaft bleiben unhinterfragt.


(1) Harro Segeberg: Regressive Modernisierung. Kriegserlebnis und Moderne-Kritik in Ernst Jüngers Frühwerk. In: ders. (Hg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes 'Arbeit' in der deutschen Literatur (1770-1930).
Tübingen 1991. S.339-378. Zu Remarque vgl. S.48f.
(2) Ebd., S.48.
(3) Ebd.